28.03.2024 Herzlich willkommen!

Trotz aller Tragödien: Auswanderer sind keine Flüchtlinge

zug photo

Wenn ein Kind stirbt, ist dies eine Tragödie. Vor allem für dessen Eltern. Das Bild eines toten Kindes macht betroffen, traurig und wütend. Aus gutem Grund gilt das ungeschriebene Gesetz, dass die Redaktionen der Fernsehsender Zuschauern Bilder von sterbenden oder getöteten Menschen nicht zumuten. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um kleine Kinder handelt. Doch von dieser Selbstverpflichtung wollten Medienverantwortliche in dieser Woche nichts mehr wissen. Zu gut passte das Foto eines toten kurdischen Jungen am Strand ihnen ins Konzept. Zwar wurden die Berichte, die mit dem unerträglichen Bild des kleinen toten Aylan aufmachten, mit belegter Stimme und traurigen Kulleraugen anmoderiert, doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass mit Kalkül vorgegangen wurde. Der Fotografin, die das Foto schoss, mag man noch hehre Absichten unterstellen, als sie ihren verstörenden Schnappschuss an die großen Presseagenturen verkaufte. Sie habe den Schrei des toten Jungen hörbar machen wollen. Was allerdings dann folgte, war obszön. Skrupellos schlachteten deutsche und europäische Medien die Szene für ihre Propaganda aus. Der offensichtliche Missbrauch des Todes eines Kindes ist der vorläufige Tiefpunkt in der Berichterstattung zum allbeherrschende Thema dieses Jahres.

Nun endlich konnte man dem Flüchtlingsdebakel ein Gesicht geben, dessen Wirkung manch Medienschaffender selbstzufrieden mit jener des von Napalm-Verbrennungen gezeichneten Mädchens im Vietnamkrieg verglich. Es wurde das Pressefoto des Jahres 1972. Ganz sicher wird auch dem Foto des toten Aylan diese „Ehre“ zuteil. Selbstverliebt scheint es der Branche einmal mehr lediglich darum zu gehen, maximale Aufmerksamkeit zu erzielen. Vor allem aber darum, das Thema Asyl- und Flüchtlingspolitik vollends von der sachlichen auf die emotionale Ebene zu befördern, um damit auch die letzten Diskussionen zu ersticken, die so dringend notwendig wären. Dafür war man sich nicht zu schade, rund um die schreckliche Tragödie eine anrührende Flüchtlingsgeschichte zu konstruieren, die es so nicht gab. Natürlich wurde der kleine Aylan wie auch sein nur wenig älterer Bruder und die Mutter Opfer der von Schleppern organisierten Überfahrt nach Griechenland. Diesen Teil der Geschichte erzählte man uns gerne. Doch unisono verschwiegen die deutschen Medien zunächst, dass die kurdische Familie zuvor bereits drei Jahre lang in der Türkei gelebt hatte, nachdem sie 2012 aus Syrien gekommen war. Sie waren also einmal Flüchtlinge – vor drei Jahren.

Unter dem Erdogan-Regime ist das Leben für Kurden in der Türkei ganz sicher nicht angenehm. Eine Flucht aus Sorge um Leib und Leben war die Überfahrt zur Insel Kos allerdings keinesfalls. Die kurdische Familie hoffte auf diese Weise, irgendwie zur Schwester des Vaters nach Kanada weiterreisen zu können, wo sie sich eine bessere Zukunft erwartete. Stattdessen wurde dem Zuschauer der Eindruck vermittelt, hier seien vier Flüchtlinge mit letzter Kraft dem syrischen Terror entkommen und dabei tragisch verunglückt. Was wie eine Bagatelle anmutet, ist eine brandgefährliche Strategie: Mit ihrer Desinformationspolitik stärken die deutschen Medien die radikalen Ränder der Gesellschaft. Ich finde es darüber hinaus jedoch unerträglich, dass von Schlepperbanden angeworbene Auswanderer auf eine Stufe mit Menschen wie meinem Vater gestellt werden, der über Nacht aus dem Iran vor einem grausamen Regime flüchten musste, weil er die „falsche“ Religion hatte. Mein Vater floh zu Fuß über die Berge bis nach Pakistan, ohne zu wissen, was ihm dort drohte. Bootsreisende, die sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Hände der Schlepper-Mafia begeben und sich irgendwo in Europa absetzen lassen, sind keine Flüchtlinge. Daran ändert auch die furchtbare Tragödie von Bodrum nichts.

16 Kommentare

  1. Wie viel unschuldige Kinder sind gestern verhungert? Weil das System >Kapitalismus< für sie nichts übrig hatte. (Statistik)
    Wie viel unschuldige Kinder hat Herr Obama diese Woche durch seine Drohnenpolitik auf dem Gewissen? (Kollateralschaden)
    Madeleine Albright, US-Außenministerin von 1997- 2001, wurde einmal folgendes gefragt. „Das Embargo, dass die USA gegen den Irak verhängt haben, hat etwa 500.000 Kindern das Leben gekostet. War es dass Wert?" Antwort: „Ja, es hat sich gelohnt“.
    Hier wird ein Bild instrumentalisiert, für eine Sache die so offensichtlich ist, dass jeder halbwegs denkende Mensch sofort weiß um was es geht.
    Aber da Aylan vermeintlich für die richtige Sache gestorben ist, werden wir auch weiterhin nicht umhin kommen, festzustellen, dass ein totes Kind nicht gleich einem toten Kind ist. Sondern dass es gute brauchbare tote Kinder gibt wenn es einem in den Kram passt und dass es wertlose überflüssige tote Kinder gibt, über die man lieber schweigt, weil man dann in ein politisches Wespennest sticht.

  2. Dieses Bild des toten 3-Jährigen hat immerhin die Herzen der Briten erweicht, so dass Cameron nicht anders konnte als die „Abholung“ von 5000 Flüchtlingen anzukündigen. Zudem wurde seine Würde nicht verletzt, er ist nicht entstellt und sieht aus wie schlafend.

  3. Lieber Herr Peymani,

    ich möchte Ihrer Drastik entgegenwirken. Längst nicht alle Medien haben sich dafür entschieden, das Bild für „ihre Propaganda“ „auszuschlachten“. So hat sich die Süddeutsche z.B. bewusst dagegen ausgesprochen: http://www.sz-online.de/nachrichten/kultur/warum-wir-das-foto-des-toten-kindes-nicht-zeigen-3189872.html.

    Ihre Kommentierung zum Schicksal von Aylan Kurdi verstehe ich unterdessen nicht. Offensichtlich um Richtigstellung der Geschichte bemüht, schreiben Sie äußerst salopp, es wäre seiner Familie darum gegangen, „irgendwie zur Schwester des Vaters nach Kanada weiterreisen zu können, wo sie sich eine bessere Zukunft erwartete.“ Auf welche Quelle stützen Sie sich? Die Geschichte, die Sie beschreiben, ist unterkomplex und lückenhaft gemessen an alldem, was Nachrichtenseiten wie bbc.com, guardian.com usw. berichten.

    Aber mal angenommen, Sie hätten Recht und Sie hätten diese tragische Geschichte nun „richtig gestellt“. Was folgt daraus? Ohne es noch mal explizit aufzugreifen, insinuieren Sie mit der Überschrift, Aylan Kurdi wäre mit seiner Familie dann kein Flüchtling gewesen, sondern lediglich ein „Auswanderer“. Was ändert das an der Tragik der Geschichte? Oder wollen Sie damit in allzu libertärer Manier sagen, dass es in der kompletten Eigenverantwortung der Familie lag, sich in die Hände der Schlepper zu geben? Dass sie es freiwillig getan hat? Dass sie alle Freiheit gehabt hätte, auch anders zu handeln?

    Es grüßt
    die WC Ente

    1. Liebe WC-Ente (leider kann ich Sie nicht mit Ihrem wirklichen Namen ansprechen),

      für Ihren Meinungsbeitrag danke ich Ihnen. Bezüglich der Quellen, auf die ich mich stütze, verweise ich Sie insbesondere auf ein Interview mit der Schwester des überlebenden Herrn Kurdi, das im britischen Sender „Sky News“ am vergangenen Mittwoch (also zu Beginn der Presseberichterstattung über den Fall) ausgestrahlt wurde. Die deutschen Medien haben die dort zutage geförderten Fakten erst mit einigen Tagen Verspätung aufgegriffen, nachdem die eigene Version der Geschichte längst in Umlauf gebracht war. Ich denke, die genannte Quelle dürfte Ihre Zweifel an der Korrektheit meiner Ausführungen beseitigen.

      Auch Ihre Frage nach der Tragik der Geschichte habe ich in jedem Absatz beantwortet. Ich habe mehrfach klargestellt, dass der Tod eines Menschen, eines Kindes zumal, immer eine Tragödie ist.

      Der springende Punkt meines Beitrags, den Sie bewusst oder unbewusst übersehen, ist die Tatsache, dass speziell von den deutschen Medien Auswanderer als Flüchtlinge inszeniert werden, um eine gewisse gesellschaftliche Verantwortung einzufordern, die es natürlich für Flüchtlinge gibt, aber eben gerade nicht für Auswanderer. Flucht ist immer etwas Erzwungenes – Auswandern ist eine freie Entscheidung. Mit libertärem Denken, wie Sie – für mich völlig unerklärlich – suggerieren, hat dies nicht im Geringsten zu tun.

      Freundliche Grüße vom Autor!

      1. Lieber Autor,

        vielen Dank für Ihre Antwort. Ich komme direkt zu Ihrem springenden Punkt, um es noch mal ganz explizit zu machen: Es geht Ihnen um den Fall von Aylan Kurdi, der fälschlicherweise als Flüchtlingskind in „den“ Medien dargestellt wurde. Eigentlich ist er aber ein Auswandererkind – sich in die Hände von Schleppern zu geben war die freie Entscheidung seiner Eltern. Sie hätten alle Freiheit gehabt, auch anders zu handeln. Die Verantwortung tragen die Eltern in diesem Fall also selbst, eine „gewisse gesellschaftliche Verantwortung“ kommt, wie Sie schreiben, nicht zum Tragen – es hat sich schließlich um ein freiwilliges Auswandern gehandelt, nicht um eine Flucht. Ist es tatsächlich das, was sie damit sagen wollen?

        Ich frage so explizit nach, da die Geschichte von Aylan Kurdi und Ihre Argumentation zu „den“ Medien (scheinbar im Ganzen), die „Auswanderer als Flüchtlinge inszenieren“, selbstsam nebeneinander stehen bleiben. Sie meinen aber doch, dass Aylans Geschichte einer dieser Fälle ist, oder?

        Freundliche Grüße von
        der WC Ente

    2. Liebe WC-Ente,

      da Sie ganz offenkundig nicht als einfacher Leser meines Blogs, sondern als Vertreter der von mir kritisierten Medien Stellung nehmen, würde ich mich freuen, wenn Sie für weitere und künftige Korrespondenz mit Ihrem tatsächlichen Namen zeichnen würden. Ich finde es immer aufrichtiger, sich zu erkennen zu geben. Es ist ja auf Dauer albern, mir als „Klobürste“, „WC-Ente“ oder dann demnächst vielleicht als „Urinstein“ zu schreiben. In der Sache freue ich mich, dass Sie meinen Kritikpunkt offenbar verstanden haben, wenn auch mit süffisanter Kommentierung Ihrerseits.

      Gerne wiederhole ich den wesentlichen Aspekt aber noch einmal: Auswanderer sind keine Flüchtlinge. Flucht ist etwas Erzwungenes – Auswandern eine freiwillige Entscheidung. Daran ändert auch der tragische Tod dreier Menschen der betroffenen Familie nichts.

      Freundliche Grüße,
      Ramin Peymani

  4. Ich hätte Schwierigkeiten, Flucht und Auswanderung mit dem Kriterium der Freiwilligkeit voneinander abzugrenzen. Denn nicht immer flieht man nur aus Angst vor einer drohenden Gefahr für Leib und Leben. Auch wirtschaftliche Existenzangst kann m.E. einen Fluchtgrund darstellen. Andere sehen hier schon noch eine Möglichkeit der Wahl. Bei der momentanen Hektik und dem Chaos kann man wohl schwer die Auswahl treffen und da bin ich für die Auslegung zugunsten des Hilfesuchenden. Egal ob er sich drei Monate oder drei Jahre auf der „Flucht“ befindet. Die Veröffentlichung des Fotos musste in der Tat nicht sein. Jeder, der über einen halbwegs vernunftbegabten Geist verfügt, kann sich das Elend vorstellen.

    1. Da zitiere ich gerne einen Leser der auf anderem Wege dieses hier mitteilte:

      „Die notwendige Unterscheidung zwischen den verschiedene Flüchtlingsarten bzw. Fluchtgründen ist elementar, wenn man wirklich wirksam helfen will und nicht nur einfach sich selber ein gutes Gefühl verschaffen möchte.“

      Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

  5. Seehofer reißt der Geduldsfaden und will sich mit Orban treffen. Und auch aus den eigenen Reihen steht Merkel unter Beschuß.

    Ich glaube, daß wir in Kürze alle ernüchtert sein werden.

    Trotzdem will ich noch schnell einen ähnlichen Fall verpixeln: Der Tsunami im Pazifik hat ein unglaubliches Spendenfeuerwerk entfacht, da war der Schaden aber noch gar nicht gesichtet. (ich glaube sowieso an eine unterseeische Bombe).

    Kurz drauf bebete in Pakistan die Erde mit zerstörender Wirkung. Dafür gab’s keine müde Mark.

  6. Hallo Herr Paymani,
    Die Geschichte ist noch abstruser: Der Vater wollte sich teure Zahnimplantate einsetzen lassen, die die kanadische Tante nicht finanzieren konnte. Also kam er auf die Idee, nach GB auszuwandern, weil er dort die teure Zahnsanierung auf Krankenkassenkosten, d.h. auf Kosten der britischen Beitragszahler, durchführen lassen wollte. Die Tante überwies 4000€!!! für die Schleuser, das Ende kennen wir. Der Junge starb wegen der egoistischen Verantwortungslosigkeit des Vaters und falscher Sozialanreize in Europa. Mittlerweile ist der Vater wieder nach Kobane zurückgekehrt. Anscheinend ist er dort doch nicht so verfolgt.

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