Heute erhalten zwei Zünfte den Klodeckel, die eines eint: Ein völlig abhanden gekommener Realitätssinn durch die dauernde Beschäftigung mit sich selbst. Vor einem Dreivierteljahr begannen Medienvertreter und Politiker die schier endlosen Feierlichleiten zum „Arabischen Frühling“ und weckten bei Zuhörern und Lesern nicht einzulösende Hoffnungen. In ihren arg naiven Beiträgen in Magazinen, im Feuilleton und sogar im Nachrichtenblock schwelgte die weit überwiegende Zahl der Journalisten in Tagträumen vom Aufbruch Nordafrikas in die Freiheit. Sekundiert wurden sie dabei von den üblichen Verdächtigen aus der Politik, die in immer neuen Sonntagsreden die Befreiung der unterdrückten Völker feierten. Es gab damals wenige klar Denkende, denen die Entwicklung im Iran nach dem Sturz des Schah Ende der 1970er Jahre oder auch die aktuelle Situation im Irak Warnung genug waren. Natürlich ist das Regime von Diktatoren für uns unvorstellbar furchtbar. Es ist grausam, unerbittlich und autoritär. Es bringt materielle und persönliche Not über Menschen, die unfrei der Willkür des Despoten ausgesetzt sind. Doch eines übersehen die westlichen Weltverbesserer immer wieder in ihrer Analyse: Die Maßstäbe setzt sich jeder Kulturkreis selbst. Schon wir halten es für anmaßend, wenn die neue Weltmacht China uns hereinredet. Umgekehrt glauben wir – angeführt von der Weltpolizei USA – allen anderen Völkern beibringen zu müssen, wie man richtig lebt. Das Ergebnis zeigt sich nun in Tunesien und Ägypten. Dort haben die jüngsten Wahlen islamistische Organisationen an die Spitze gespült, die künftig mit harter Hand ihre fundamentalistische Interpretation des Koran umsetzen werden. Die „Befreiung“ von den Diktatoren, die ihrem Land durch die Öffnung zum Westen immerhin einen Platz unter den Wirtschaftsnationen der Welt ermöglichten und für Stabilität sorgten, führt die Menschen nun in eine unsichere, von religiös begründeten Repressalien geprägte Zukunft. In Ägypten haben die neuen Machthaber bereits angekündigt, dass sich auch Touristen auf ein neues Zeitalter einstellen müssen. Doch welcher Gast aus Europa möchte im Urlaub schon im Ganzkörperbadeanzug am Strand liegen oder sich ein kühles Glas Rosenwasser schmecken lassen? Die Folgen sind absehbar: Dramatische Einbrüche im Tourismus, eine zunehmende Abschottung zum Westen und eine knallharte Durchsetzung der religiösen Weltanschauung bei der immer weiter verarmenden eigenen Bevölkerung – war vorher wirklich alles so viel schlechter?
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