Man traut der politischen Kaste heutzutage ja so einiges zu. Wenig kann uns geschundene Bürger noch erschrecken. Nur besonders naive Zeitgenossen mit beneidenswert begrenztem Vorstellungsvermögen geraten angesichts der Ungeheuerlichkeiten unserer Parlamentarier noch ins Staunen. Der Politkrimi, der sich aktuell in Berlin entfaltet, haut aber selbst robuste Beobachter aus den Schuhen. Angefangen hatte alles mit einer eigenartig verklausulierten Erklärung des SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy, der Ende vergangener Woche urplötzlich sein Bundestagsmandat niederlegte. Schnell wurde spekuliert, der frühere Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses habe sich bei der Postenvergabe von der Großen Koalition übergangen gefühlt und werfe beleidigt das Handtuch. Dass derlei Vermutungen kompletter Unfug sind, bedarf angesichts der üppigen Finanzausstattung von Bundestagsmandaten und der eitlen Persönlichkeitsstruktur heutiger Politikkarrieristen keiner besonderen Erwähnung. Niemand würde aus solch banalen Gründen die Plattform der eigenen Zurschaustellung lieblos wegwerfen. Es musste also mehr dahinter stecken, soviel war von Beginn an klar. Aber was?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Plötzlich machte das Gerücht die Runde, gegen Edathy werde im Zusammenhang mit Kinderpornografie ermittelt. Mit dem eiligen Rücktritt sei er lediglich der Aufhebung seiner politischen Immunität zuvorgekommen. Schon die erste, auffallend leidenschaftslose Stellungnahme des SPD-Juristen Oppermann sprach Bände. Und Solidaritätsbekundungen der SDP-Führung suchte man anschließend vergeblich. Am Freitag wurde klar warum: Parteichef Gabriel war bereits seit Oktober 2013 eingeweiht. Ausgerechnet der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich hatte ihn darüber informiert, dass Edathy wegen des Verdachts auf den Erwerb und Besitz kinderpornografischen Materials strafrechtliche Ermittlungen drohten. Für die SPD bestand somit die Gelegenheit, einen ihrer aufstrebenden Politstars frühzeitig zu warnen, was dieser dazu genutzt haben könnte, Festplatten nicht nur zu löschen, sondern unbrauchbar zu machen. Die Staatsanwaltschaft fand nämlich bei der Hausdurchsuchung offenbar nur noch Reste zerstörter Festplatten sowie Computer, deren Festplatten gelöscht oder gleich ganz entfernt worden waren. Edathy ist erst einmal abgetaucht, Minister Friedrich zurückgetreten. Und nun?
Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die Bundesregierung vor einem der schwersten Kriminalfälle seit Willy Brandts Guillaume-Affäre steht. Friedrich könnte sich nun einer Anklage wegen des Verrats von Dienstgeheimnissen oder vielleicht sogar Strafvereitelung im Amt gegenübersehen. Und die anderen? Plaudertäschchen Friedrich hat politische Verantwortung übernommen, darf man so etwas auch von der SPD-Spitze erwarten? Sigmar Gabriel sagt nein, aber das letzte Wort ist hier sicher noch nicht gesprochen. Vorerst steht Edathy im Zentrum der Ermittlungen. Diesem muss man entweder großen Leichtsinn attestieren, oder – was angesichts der Abgehobenheit unserer politischen „Elite“ fast näher liegt – die Arroganz, zu glauben, einem wie ihm könne man nichts anhaben. Die Fotos nackter Minderjähriger hatte er nämlich von seiner IP-Adresse mit der eigenen Kreditkarte über seine Email-Adresse erworben. Es gilt nun zu prüfen, wie die brisanten Informationen den Weg von der SPD-Spitze zum früheren Nazi-Jäger gefunden haben. Persönliche Konsequenzen schloss der hartleibige Sigmar Gabriel für sich und seinen aalglatten Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann aus. Dass beide nun den „Klodeckel des Tages“ um den Hals tragen, kann da nur wenig trösten.